Was bedeutet die „Abschaffung der Angemessenheitsklausel“ für die israelische Demokratie?

Gerade viele ehemalige Soldaten wenden sich gegen den Umbau des Rechtsystems". Hier: "Panzersoldaten für den Schutz der Demokratie"
Poster auf der Demonstration

Was bedeutet die „Abschaffung der Angemessenheitsklausel“ für die israelische Demokratie?

In den letzten Stunden erreichten mich zahlreiche Nachrichten mit der Frage: Was bedeutet die „Abschaffung der Angemessenheitsklausel“ für die israelische Demokratie?
Hier der Versuch einer Erklärung:
Die „Suspendierung wegen Unangemessenheit“ war bisher ein wichtiges Instrument des Obersten Gerichtshofs, um Entscheidungen der Regierung, die offensichtlich dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen, aufzuheben.
Ein prominentes Beispiel für eine solche Suspendierung war zu Beginn dieses Jahres die Aufhebung der Ernennung von Aryeh Deri, dem Vorsitzenden der Shas-Partei, zum Gesundheits- und Innenminister.
Deri, der derzeit eine zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe verbüßt, hatte sich verpflichtet, im Falle einer Nichtvollstreckung der Haftstrafe, keine Ministerposition in der zukünftigen Regierung zu übernehmen. Trotzdem wollte Netanyahu ihn zum Minister ernennen, was ihm jedoch vom Obersten Gerichtshof untersagt wurde.
Dieses neue Gesetz entzieht dem Obersten Gerichtshof nun jedoch die Möglichkeit, ähnliche Entscheidungen der Regierung und Minister zu überprüfen oder aufzuheben.
Ein weiteres Beispiel:
Wenn wichtige Positionen wie beispielsweise die des Polizeichefs von der Regierung aus nicht nachvollzieharen Gründen (z.B. weil Netanyahu wegen seiner Korruptionsvorwürfe die Polizei schwächen will) dauerhaft nicht besetzt werden, konnte das Gericht bisher von der Regierung eine entsprechende Ernennung verlangen.
Eine ganz ähnliche Situation erkennen wir heute: Nachdem es der Regierung nicht gelungen war, den „Ausschuss zur Auswahl zukünftiger Richter“ nach eigenen Vorstellungen zusammenzusetzen (um über diesen neue Richter nach politischen Erwägungen zu ernennen), weigert sich die Regierung nun, den Ausschuss überhaupt einzuberufen. Bisher hätte der Oberste Gerichtshof die Regierung dazu zwingen können. Diese Möglichkeit hat sie nun nicht mehr.
Somit kann die Regierung zukünftig wichtige politische Positionen willkürlich kündigen oder neu besetzen, ohne das die Gerichte hier jegliche Möglichkeit haben, diese Entscheidungen zu überprüfen.
Die Abschaffung der Klausel bedeutet, dass die Regierung und die Minister praktisch uneingeschränkte Macht bei ihren Entscheidungen haben werden. Theoretisch könnte sie sogar extreme oder möglicherweise menschenrechtsverletzende Maßnahmen ergreifen, ohne dass sie durch die Gerichte gestoppt werden können.
Das Gesetz wurde heute in zweiter und dritter Lesung genehmigt und tritt in Kraft, sobald es im Amtsblatt veröffentlicht wird, normalerweise innerhalb von zehn Tagen nach der Genehmigung durch die Knesset.
Namhafte Juristen und Organisationen haben gegen die Verabschiedung dieses neuen Gesetzes geklagt. Sie argumentieren, dass die Änderung des Grundgesetzes die grundlegende Autorität der Judikative verletzt und damit die Essenz Israels als demokratischer Staat schwer beeinträchtigt. Einige der Antragsteller behaupten zudem, dass die Gesetzesänderung in einem fehlerhaften Gesetzgebungsverfahren angenommen wurde.
Allerdings genießen die Grundgesetze in Israel einen hohen Status und obwohl Israel keine Verfassung hat, hat der Oberste Gerichtshof bisher noch kein Grundgesetz aufgehoben, sondern nur normale Gesetze, die im Widerspruch zu bestehenden Grundgesetzen standen.
Der Oberste Gerichtshof hat in seinem Urteil der letzten Jahre jedoch zwei Gründe entwickelt, die in Ausnahmefällen zur Aufhebung eines Grundgesetzes herangezogen werden können. Der erste bezieht sich auf den Missbrauch der Knesset als konstituierende Autorität. Dies gilt, wenn sie ein Gesetz erlässt, das als Grundgesetz definiert ist, aber nicht als „Verfassungsnorm“ gilt. Der zweite Grund wird als „verfassungswidrige Verfassungsänderung“ bezeichnet.
Die Kläger gegen die Streichung der „Angemessenheitsklausel“ argumentieren daher, dass das Gesetz die Gewaltenteilung und andere Werte verletze und damit den demokratischen Charakter Israels negiere – und damit verfassungswidrig sei. Insbesondere gefährde das neue Gesetz den drei entscheidenden Prinzipien, die die demokratische Identität Israels ausmachen: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Reinheit der Wahlen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt:
Noch bevor über die Anträge gegen das Gesetz verhandelt wird, kann der Oberste Gerichtshof vorläufige Anordnungen erlassen, die die Wirksamkeit des Gesetzes bis zur endgültigen Entscheidung aussetzen. Sollte die Regierung befürchten, dass der Oberste Gerichtshof eine Aussetzung des Gesetzes anordnet, könnte die Knesset in der Zwischenzeit eine Änderung des neuen Gesetzes beschließen.
Sollte dies nicht geschehen, bleibt zu hoffen, dass die Richter erkennen, dass die Abschaffung der Angemessenheitsklausel der erste Schritt in einem größeren Plan ist, der die Prinzipien der israelischen Demokratie aushebeln würde.
Eines ist klar: Die Mehrheit der Bevölkerung will diese Veränderungen nicht – das machen alle Umfragen deutlich. Die Politik wird heute getrieben von zwei rechtsradikalen Parteien, die auch in Israel eigentlich keine Mehrheit haben.
Es bleibt zu hoffen, dass sich bald ein Weg findet, das heute verabschiedete Gesetz zu annullieren.

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